Dieser Blog erscheint im wöchentlichen Rhythmus und
versteht sich als Raum für gedankliche Erkundungen.
Aus einer beobachtenden, nicht moralisierenden Perspektive nähert er sich unterschiedlichsten Themen –
offen, assoziativ, fragmentarisch. Ziel ist weniger das Formulieren von Thesen als das Teilen von Impulsen, die das Nachdenken zwischen dem Persönlichen und dem Gesellschaftlichen in Bewegung
setzen – ein leiser Dialog im Fluss.
08.05.2025
von Rafael Andrade-Córdova
Die deutsche Gastronomie wird im internationalen Vergleich oft nicht als besonders raffiniert oder gesellschaftlich hoch angesehen betrachtet. Weder dominiert sie kulinarische Rankings, noch genießt sie in der eigenen Gesellschaft den Status eines „noblen“ Berufsfelds. Doch woran liegt das? Diese Frage eröffnet ein komplexes Netz kultureller, historischer und sozialer Faktoren, die bis heute prägend sind.
Historisch war Essen in Deutschland vor allem funktional. Beispielsweise in Ländern wie Frankreich, Italien, Perú, Spanien, Kolumbien, Mexiko, Ecuador, Argentinien ist die Küche ein Symbol nationaler Identität – ein Kulturgut. In Deutschland hingegen wurde Kochen lange als notwendige Alltagspraxis betrachtet. Insbesondere in protestantisch geprägten Regionen setzte sich eine Philosophie der Schlichtheit und Zweckmäßigkeit durch. Genuss war mit Vorsicht zu genießen – im doppelten Sinne.
Zudem fehlt eine einheitliche „deutsche Küche“. Was es gibt, ist eine Vielzahl regionaler Traditionen – von der bayerischen über die schwäbische bis zur norddeutschen Küche. Diese Vielfalt ist kulturell reich, verhindert aber eine klare kulinarische Außendarstellung. Regionales Essen wird eher mit Heimat und Nostalgie als mit Innovation oder kulinarischer Exzellenz verbunden.
Ein weiteres zentrales Thema ist der gesellschaftliche Status gastronomischer Berufe. In Deutschland sind Berufe in Küche und Service häufig mit geringem Ansehen, hohem Arbeitspensum und schlechter Bezahlung verbunden. Im Gegensatz zu Ländern, in denen Köchinnen als Künstlerinnen gefeiert werden, bleibt hier oft der Eindruck eines rein praktischen Handwerks.
Auch der Umgang mit Lebensmitteln und Essen im Alltag ist geprägt von einer „Preis-vor-Qualität“-Mentalität. Der Erfolg von Discountern wie Aldi oder Lidl steht symbolisch für ein Konsumverhalten, das oft den günstigsten Weg sucht. Essen außer Haus ist selten ein kulturelles Ereignis – vielmehr eine Frage der Effizienz.
Trotzdem gibt es Bewegung: Vor allem migrantische Communities prägen die urbane Gastroszene auf inspirierende Weise. In Städten wie Berlin oder Hamburg entstehen kulinarische Räume, die Weltoffenheit, Kreativität und soziale Diversität vereinen. Gleichzeitig formiert sich eine neue Generation deutscher Köch*innen, die regionale Produkte mit internationalem Anspruch kombiniert – eine „Neue Deutsche Küche“, die an Selbstbewusstsein gewinnt.
Mit über 300 Michelin-Sterne-Restaurants verfügt Deutschland heute durchaus über gastronomische Exzellenz – doch sie bleibt für viele unerreichbar und elitär. Der breite gesellschaftliche Wandel steht noch aus.
Vielleicht braucht es ein kulturelles Umdenken: Essen als identitätsstiftenden, sozialen und ästhetischen Akt zu begreifen – nicht nur als Nährstoffaufnahme. Denn wo Essen geschätzt wird, werden auch diejenigen geschätzt, die es gestalten.